Die Kirche im Dorf – oder: Jailhouse Rock?

5 Fragmente zu einem Projekt von Reinecke & Wimmer


I. Öffentlicher Raum?

Der Begriff „öffentlicher Raum“ benennt nicht nur die freie, offene Zugänglichkeit eines Raumes, sondern und vor allem auch seine Eigenschaft, das dort öffentliche, also alle Bürger und Bürgerinnen betreffende Angelegenheiten verhandelt werden(1). Das klassische Beispiel hierfür ist das Forum Romanum, heute ist es z. B. das Rathaus ebenso wie die Straße oder der Platz, auf der politische Demonstrationen stattfinden (können). Ein Einkaufszentrum z. B. ist daher kein öffentlicher Raum, als privatwirtschaftlich genutzter verfügt er weder über einen freien Zugang, das Hausrecht hat nun mal der Eigentümer, noch werden hier öffentliche Angelegenheiten verhandelt. Konsum ist halt kein verbrieftes Grundrecht, sondern immer noch eine private Angelegenheit(2). In einem Interview, das anlässlich eines Wettbewerbs für die Gestaltung von vier Freiganghöfen im Zuge der Renovierung der Jugendvollzugsanstalt Stammheim geführt wurde, behauptet Daniel Wimmer mit den Worten „da wir diesen Ort ebenfalls als einen der Öffentlichkeit verstehen“(3), dagegen das Gefängnis als öffentlichen Raum: So wird hier zutreffend von Reinecke & Wimmer, die an dem  2013/14 stattgefundenen Wettbewerb teilgenommen hatten, deren Entwurf „48° 51' 15'' N, 9° 9' 16'' E'' aber abgelehnt wurde, betont, dass im Gefängnis explizit öffentliche Angelegenheiten verhandelt werden, nämlich den uns alle betreffenden Umgang mit Recht und Strafe, und, damit in Zusammenhang gebracht, das (recht autoritär ausgetragene) Spannungsverhältnis von Freiheit und deren Entzug.

 

II. Kunst im öffentlichen Raum?

Kunst im öffentlichen Raum gibt es spätestens seit Kurt Schwitters sein „Anna Blume“-Gedicht 1920 in Hannover an diversen Litfaßsäulen plakatiert hat. In den 1960er Jahren aber erst geriet diese Kunst zu einem eigenen Genre, und zwar vor allem in Folge der „Kultur für Alle“, die u. a. der legendäre Frankfurter Kulturdezernent Hilmar Hoffmann(4) damals offiziell in das Leben gerufen hat. Kunst sollte jetzt nicht mehr nur in den traditionell dafür vorgesehenen Institutionen wie Museen oder Galerien stattfinden, sondern, gleichsam basisdemokratisch, auch an Orten wie der Straße oder dem öffentlichen Platz. Mit dieser Entwicklung ging aber auch eine Tendenz einher, die Kunst quasi als repräsentative „Stadtmöbilisierung“ zu instrumentalisieren versuchte. „Kunst im öffentlichen Raum“ wurde halt meist mit „Staatsknete“ finanziert und geriet daher schnell in entsprechende Abhängigkeiten. So formuliert dann Reinecke im besagten Interview treffend: „Welche Möglichkeiten hat Kunst am Bau überhaupt? Welche Erwartungshaltungen gibt es? Sehr schnell landet man da bei einer gefälligen Dekoration“(5). Dass es sich bei dieser „Kunst am Bau“ um „Kunst an einem öffentlichen Bau“ handelt, dieses hatte sein Kollege Wimmer im selben Interview schon zuvor festgestellt. Der besagten Vereinnahmung der Kunst als Dekoration gelingt dann in aller Regel vor allem Eines: Die nun eben nicht mehr „freie“ Kunst wird ihres kritischen Potentials beraubt. Was tun? 


III. Politische Kunst?

Versteht man also den öffentlichen Raum als einen, in dem öffentliche Angelegenheiten verhandelt werden, dann sollte man bedenken, dass in einer Gesellschaft, die sich offiziell als Demokratie sieht, diese Verhandlungen in der Form eines offenen, partizipativen und widerspruchsvollen Diskurses  stattfinden sollten. Alle „mündige“ Bürger nehmen dann, so die Idee der Demokratie, an diesem Entscheidungen herbeiführenden Diskursen teil, jeder ist in dieser „Streitkultur“ zunächst einmal gleichberechtigt, jede Meinung unterschiedlicher „Lager“ ist zu hören und zu diskutieren. Die französischen Philosophin Chantal Mouffe nun betont in diesem Zusammenhang: „Ungeachtet dessen, was viele Liberale uns glauben machen wollen, liegt die Besonderheit demokratischer Politik nicht in der Überwindung des Wir-Sie-Gegensatzes, sondern in der spezifischen Art und Weise seiner Etablierung“(6). Mouffe insistiert daher statt auf vorschnelle „Konsensutopien“ auf die Existenz von sich widersprechenden Interessen und auf die Bedeutung von sich bekämpfenden Vertretern dieser Interessen. Die Art und Weise wie diese Interessenkonflikte auszutragen seien, ist die des „Agonismus“, „einer Wir-Sie-Beziehung, bei der die konfligierenden Parteien die Legitimität ihrer Opponenten anerkennen… Sie seien Gegner, keine Feinde“(7). Demokratie braucht also Gegner, nicht nur „Konkurrenten“, wie die Liberalen behaupten. Diese behandeln das „Feld der Politik als neutrales Terrain“, auf dem „um Machtpositionen gekämpft wird“, ohne allerdings die „herrschende Hegemonie in Frage zu stellen“(8). Genau so greift das Politische zu kurz, denn es vermag sich nicht in die sich in Machtverhältnissen ausdrückenden Interessenkonflikte einzumischen. Nimmt man beides, das Konzept des öffentlichen Raumes als Verhandlungsraum öffentlicher Angelegenheiten und Mouffes Vorstellung des Demokratischen zusammen, dann ergibt sich ein Bild, dass den öffentlichen Raum als Kampfzone entfaltet, auf dem keine falschen Harmonien vorherrschen, sondern ein diskursives Widerstreiten. Für Kunst im öffentlichen Raum bedeutet dieses, dass sie sich dort vor allem als politische Kunst zu behaupten hat.   


IV.  „48° 51' 15'' N, 9° 9' 16'' E''

Der von Reinecke & Wimmer für den Stammheimer Wettbewerb eingereichte Entwurf „48° 51' 15'' N, 9° 9' 16'' E'' sieht vor, einen stilisierten Schattenwurf des Stammheimer Gefängnishauses 1 in Form einer anthrazitfarbenen Schotterfläche über weite Teile der JVA auszulegen. Bei diesem Gefängnishaus, das im Zuge der Renovierung der JVA abgerissen werden soll, handelt es sich um eben das Gefängnis, in dem 1974 die Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin  und Jan-Carl Raspe 1974 inhaftiert wurden und in dem bekanntlich1976 Ulrike Meinhof, 1977 Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe unter bis heute nicht endgültig geklärten Umständen um ihr Leben kamen. Mit diesem in Form eines Architekturmodells präsentierten Entwurf wollten Reinecke & Wimmer einerseits an ein wichtiges Kapitel bundesdeutscher Geschichte erinnern, andererseits würde die Schotteroberfläche für ein angenehmes Gehgefühl bei den Hofgängen der Inhaftierten sorgen. Zudem hätte die einheitliche Gestaltung der Bodenfläche in der JVA das dortigen Ensemble an Bauten zumindestens visuell zu einer homogen Einheit zusammengefügt. Die Arbeit  „48° 51' 15'' N, 9° 9' 16'' E'' wäre also sowohl eine politische wie eine pragmatische gewesen und wäre so dem Ort JVA Stammheim überaus gerecht geworden. Dennoch sorgte die Vorstellung des Entwurfes für einen Eklat, „rockte“ gleichsam die Jurysitzung, sogar eine Ausladung von Reinecke & Wimmer  war da plötzlich im Gespräch. Gewonnen hat den Wettbewerb dann ein Vorschlag, der vorsah, Sternbilder zu installieren, die u.a. in Form von Sitzbänken daherkamen. Praktische Poesie statt handfester Politik – so in etwa stellte sich die Jury offensichtlich ihre Kunst am JVA-Bau vor, kritische Erinnerungsarbeit war hier daher mehr als unerwünscht. Kunst im öffentlichen Raum musste sich also wieder einmal als mehr oder wenige dekorative „Konsensutopie“ gebären und die baden-württembergische Demokratie blendete wie leider so oft das nicht nur ihr eigentlich wesentliche Moment des interessegerichtet und explizit formulierten Konfliktes aus. Der ausgelegte Schatten hat neben seinem konkreten Bezug auf das Gefängnishaus 1 übrigens durchaus auch metaphorische Qualitäten, denn wie ein dunkler Schatten liegt die Geschichte der drei „Rote Armee Fraktion“-Terroristen immer noch über die JVA Stammheim – und vielleicht wirft das indiskutabel undemokratische Verhalten der Wettbewerbsjury, die aus Mitgliedern der Kunstkommission des Landesbetrieb Vermögen und Bau Baden-Württemberg bestand, zudem seine Schatten voraus… Der Titel der Arbeit, das soll nicht unerwähnt bleiben, benennt die geographischen Daten des in der Planungsphase verbliebenen Projektes, diese wären z. B. hilfreich gewesen um die  Arbeit im Falle ihrer Realisierung bei Google Earth optimal sehen zu können.


V. Eine Ausstellung als Möglichkeitsraum

Haben sich Baader, Ensslin und Raspe damals tatsächlich selbst umgebracht, oder …? Hätte der Staat damals in anderer Form auf die zugebenermaßen mörderischen Aktionen der RAF reagieren können? Geschichte ist immer auch ein Möglichkeitsraum, bietet immer mehr als nur eine Option, und dieses gilt  besonders in Hinsicht auf ihre Interpretation und Schreibung. Als Möglichkeitsraum stellt sich daher auch Reinecke & Wimmers Ausstellung „Die Kirche im Dorf“ vor. Das Modell von „48° 51' 15'' N, 9° 9' 16'' E'' wird hier nämlich so präsentiert, dass es an einer Stelle einen aufgebrochenen Raum zeigt, einen Raum, der groß genug ist, um dort ein Aufnahmegerät unterzubringen. Ist also von den Künstlern ein solches in besagte Jurysitzung geschmuggelt worden? Und dieses dann genauso, wie man es angeblich in Gefängnissen tut? Auf jeden Fall sind in der Ausstellung Cut-Ups zu sehen, die Fragmente von in der Jurysitzung vielleicht Geäußertem zeigen. „ja, aber ich bin entsetzt“, ist dort ebenso zu lesen wie: „so menschenverachtend, das ist indiskutabel für mich“, oder: „die Arbeit sparen, darüber zu diskutieren“, und. „kein Anrecht darauf, das sie ein Schriftstück bekommen“. Formulierungen also sind hier in Fragmenten versammelt, die Zeugnis geben u. a. von einem nachhaltig gestörten Verhältnis zu Demokratie. Das eigentliche Corpus Delicti, das Aufnahmegerät bleibt jedoch in der Ausstellung unsichtbar.Eine solche Abhöraktion würde natürlich an die Verwanzung erinnern, mit denen 1974 – 77 die Zellen der RAF-Terroristen nachweislich versehen waren. Und sie würde anspielen auf aktuelle Praktiken ungefragten Ab- und Mithörens, wie sie gerade jetzt in das Licht der Öffentlichkeit geraten sind, Stichwort: NSA-Affäre. Die Recht- und Verhältnismäßigkeit solcher Abhöraktionen ist selbstverständlich (immer noch) höchst umstritten – genau darauf spielt der Titel „Die Katze im Dorf“ (lassen) der Ausstellung dann auch an.




(1)    Lese dazu: Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt am Main 1962

(2)    Anno 2008 installierte Reineck & Wimmer übrigens in einem Hamburger Einkaufszentrum ihre Kartoninstallationen „Umbauten“.

(3)    In: Geschichte soll schöner werden, Interview mit Anima Valle Thiele, Konkret # 3, Hamburg 2014, S. 60.

  1. (4)   Lese dazu: Hillmar Hoffmann, Kultur für Alle, Frankfurt am Main 1979.

  2. (5)   a.a.O. Anm. 2.

  3. (6)   Chantal Mouffe, Über das Politische, ed. Frankfurt am Main 2007, S. 22.

  4. (7)   ebenda, S. 30.

  5. (8)   Alle Zitate ebenda S. 31.



Raimar Stange, Worpswede im August 2014