In um herum.


Wen oder was soll man sich unter dem Namen Reinecke & Wimmer vorstellen? Die nüchterne Selbstbezeichnung lässt an ein Unternehmen denken. Vielleicht an einen Klempner in der benachbarten Strasse? Mal sehen, was das noch recht junge Unternehmen bereits produziert hat. „Unbauten“, „Vertikal, flexibles Installationsobjekt“ oder „Stützmaßnahme“ heißen die Arbeiten zum Beispiel. Das könnte auf ein Bauunternehmen hinweisen, vielleicht auch auf ein Planungsbüro.


Aber Reinecke & Wimmer sind keine Baupraktiker, sondern Künstler. Sonst wären wir schließlich nicht hier, in der Galerie Flut. Aber dennoch scheint ihnen daran gelegen, uns auf eine Verbindung hinzuweisen, von Architektur (ihrem Selbstverständnis und den Erwartungshaltungen, die sie erzeugt) und dem freiem künstlerischem Eingriff. Im Gegensatz zu besagter Architektur ist die Kunst ein Feld, das frei ist von in der Alltagswelt üblichen zweckdienlichen rationalen Überlegungen. Wenn Reinecke & Wimmer sich der Untersuchung dieser Schnittstelle widmen, dann geht es dabei auch um den Zweifel, z.B. an der vermeintlich über alle Skepsis erhabenen Macht der Architektur und der sie begründenden Geisteswelt. An dieser Schnittstelle docken die Künstler an wie Putzerfische an einen Blauwal.


In der Ausstellung „in um herum“ stehen wir mehreren Arbeiten gegenüber, die allesamt aus Reinecke & Wimmers letztjährigem Projekt „Stätten“ im Bremer Bahnhofsbunker hervorgegangen sind. In diesem unterirdischen, klaustrophobische Reaktionen provozierenden Bau, der noch bis vor wenigen Jahren den Obdachlosen und Stadtstreichern als kostenpflichtiges Asyl diente, haben Reinecke & Wimmer eine Installation aus zahllosen aneinandergereihten Raummodellen platziert, die sie grob aus Pappe gerissen und geschnitten haben. Die so entstandenen Module sind prototypisch, eher zitieren oder phantasieren sie Vorstellungen von Architektur, als das sie selber ernsthafte Entwürfe sein wollen. Das diese Installation beherbergende Bunkerinnere ist selber eine roh zusammengehauene, zweckbestimmte Betonkonstruktion, ähnlich wie das Innere einer Hochgarage, nur historisch als auch sozial ungleich aufgeladener.


Die hier gezeigten neuen Arbeiten: „64 Architekturmodelle“ (ein aufgeschichteter und zusammengepresster Stapel der im vorigen Absatz beschriebenen und dort noch aneinandergereihten Raummodelle), das Video „irren“, die Fotoserie „harren“ und das Buch „in um herum“ sind aus diesem Projekt hervorgegangen. Sie werden von Reinecke und Wimmer durch die räumliche Umgestaltung der Galerie, durch eine Installation in situ, die ihren Titel „in um herum“ mit der Bucharbeit teilt, eingefasst. Im Gegensatz zur Physis der einzelnen benannten Arbeiten ist ihre installative Kombination in den Räumen der Galerie eher ephemerer Natur. Sie existiert in der hier sichtbaren Form nur für zwei Wochen, eben genau für den Zeitraum, den diese Ausstellung dauert. Über sie werde ich hier nicht weiter sprechen, setzt sie doch zuvorderst auf die unmittelbare Raumerfahrung des Publikums. Sie kann durchaus in Zusammenhang mit Werken gesehen werden, die in minimalistischen wie konzeptuellen Traditionen stehen. Dabei kommen mir konkret Arbeiten aus den letzten Jahren von Leni Hoffmann, Costa Vece oder Christoph Büchel in den Sinn.


In die Raumarchitektur von Reinecke & Wimmer eingebettet ist zunächst die Videoarbei „irren“. Der Titel lässt sich weniger auf das Substantiv, den fehlgeleiteten Gedanken, zurückführen, als auf eine ungezielte und hektische Bewegungsform, das „Irren“ durch eine endlos scheinende, labyrinthische Abfolge von Raumformen verstehen. In dem eingeschränkten Blickwinkel einer Kamera wechseln die Sichten auf die Innenräume der Pappmodelle – Variationen eines immergleichen Schemas -  mit Aussichten auf den sie umgebenden „Echtraum“ des Bunkerinneren ab. Man sieht also vom Inneren der Modelle auf den Außenraum, den Realraum, der durch das Innere des Bunkerraums, in dem sich die Modelle befinden, gebildet wird. Modell- und Realraum wechseln sich ab und werden miteinander verschränkt.


So entsteht unwillkürlich die Frage: wer oder was ist es, das sich hier bewegt? Sicherlich, es ist eine Kamera, die über den Boden geschoben oder gezogen wird und die eine Echtzeit-Bewegung suggeriert, wie wir sie zum Beispiel von der wackeligen Kameraführung der Dogma-Filme oder auch von bestimmten Computerspielen kennen. Die Perspektive knüpft an bekannte Sehgewohnheiten, die Bewegung ist hektisch, orientierungslos. Man meint, die Umgebung durch die Augen einer Bunkerratte zu sehen, die endlos im Gewirr der Gänge herumflitzt. Dies befremdliche Gefühl wird noch verstärkt durch das kratzende, schleifende Geräusch, das die sich auf dem Boden bewegende Kamera verursacht. All das unterstreicht noch das Gefühl der Getriebenheit, eines atemlosen Irrlaufs durch kafkaeske Gänge und Labyrinthe. Wie ein Marathonlauf durch alle Modelle überhaupt, gefangen in einer endlos scheinenden Unterwelt.


Die nächste Arbeit funktioniert wie ein Buch. Sie trägt den Titel „in um herum“ (ebenso, wie die ganze Ausstellung) und ist auf wenige Exemplare limitiert. Im Unterschied zum gewöhnlich gedruckten und maschinell gebundenen Buch wurde dieses Objekt allerdings - in jeder Phase sichtbar - manuell hergestellt und mutet eher an wie eine papierne, aus bedruckten Blättern hergestellte Schichtung, denn als ein konventionelles Buch. Die Schichtung von Raumdarstellungen geht zurück auf Operationen, die Reinecke & Wimmer schon bei anderer Gelegenheit, wie der räumlichen Schichtung von Pappmodellen, beschäftigt hat. Sie findet in der Arbeit „64 Architekturmodelle“, die aufgestapelt und mit einer Altpapierpresse zu einem Quader zusammengedrückt wurden, bis dato ihren Höhepunkt.


In „in um herum“ findet man viele Perspektiven der Modelle, Kompositionen in krassem schwarz/weiß, harte Xerografien. In diesen Kompositionen verschmelzen die Modelle und der sie beherbergende Realraum ineinander, unterschiedliche Maßstäbe und Größenverhältnisse sind nicht mehr klar unterscheidbar. „In um herum“ greift so das Thema des Films wieder auf, nur eben in einem anderen Medium, wie eine weitere Variation des gleichen Themas.


In den Fotoarbeiten „harren“ durchläuft das Material noch einmal eine drastische Wandlung. Schon in den Buchseiten löst sich das abgebildete Material der Installation, die Pappe von ihrem ursprünglichen installativen Zusammenhang im Bunker; ihre besonderen Eigenschaften werden zum ästhetischen Eigenen. Dieser Prozess wird hier bei „harren“ noch weiter getrieben. Aus der Bewegung im Raum entstehen eingefrorene Momente, Stills im eigentlichen Wortsinn. Material, Raum, Lichtführung, alles verharrt tatsächlich in einem einzigen, Szene gesetzten Augenblick. Es entsteht der Eindruck von Kulissen oder Bühnen, eine Assoziation die durchaus bereits im ursprünglichen Kontext statischer, bewegungsloser Modelle angelegt war. Aber eben in anderen Größenverhältnissen. Die Abbildungen der in der Installation ja real vorhandenen Räume driften jetzt völlig ins Informel. Die ästhetische Wirkung der gerissenen Pappkante, der Schichtung, des Materials, tritt in den Vordergrund. Gewellte Pappe und solider Beton erscheinen gleichrangig, sind nicht mehr voneinander zu  unterscheiden. Schwer- und Leichtgewichtiges werden eins.


Der Prozess der Metamorphose, die Lust an der Verwandlung bestimmt den Zyklus der hier gezeigten Arbeiten. Die Skizze, das Modell dient nicht der Vermittlung einer rationalen Idee, sondern löst sich von ihr ab und wird zum bloßen Selbstzweck, zum absichtslos-absichtsvollen Spiel. Die Stationen des Realraums Bunker, die Statik der Modelle, die Bewegung im Raum, die erneute statische Inszenierung sind in einer endlosen Bewegungsschleife miteinander verbunden, streben auseinander und gehen ineinander über. Es ist ein Prozess potentiell endloser Verwandlung. Dieser Prozess hat Reinecke & Wimmer in seinen Bann gezogen. Auch so kann das Irren, Harren in um herum gedeutet werden.


Horst Griese